A. Keith u.a. (Hrsg.): Einer der Spiegel des Anderen

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Titel
Einer der Spiegel des Anderen. Briefwechsel 1922–1960


Autor(en)
Jünger, Ernst; Jünger, Gretha
Herausgeber
Keith, Anja; Schöttker, Detlev
Erschienen
Stuttgart 2021: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Ortmann, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Forschung und Diskussion über Ernst Jünger kreist immer wieder um ähnliche Fragen: Ernst Jünger – Schriftsteller unterm Stahlhelm – War Jünger Faschist? – Acid trips mit Albert Hoffmann? Seltener wird aber die Frage nach dem Privat- und Liebesleben mit seiner ersten Gattin Gretha Jünger und noch seltener die nach Grethas eigenem Leben beleuchtet. Eben diesem Projekt haben sich jedoch Anja Keith und Detlev Schöttker in der von ihnen 2021 herausgegebenen Edition des Briefwechsels zwischen Gretha und Ernst Jünger zwischen 1922 und 1960 gestellt. Für „Einer der Spiegel des Anderen“ haben Keith und Schöttker aus der fulminanten Materialsammlung von 1.964 Briefen, die erhalten sind, 358 Schreiben ausgewählt, die in diesem Band vorgestellt werden und zu denen die beiden Herausgeber:innen ein kurzes Vorwort und ein ausführliches Nachwort als Geleit anbieten.

Die Ausgabe von Keith und Schöttker besticht durch die elaborierte historische Einordnung, Unterteilung und Organisation des Materials und ermöglicht einen tiefen Einblick in die Psychen, Liebes- und Leidensgeschichten, politischen Ansichten, (freundschaftlichen) Netzwerke und kreativen Arbeitsprozesse von Gretha und Ernst Jünger. Um die vielfältigen Untersuchungen, die mit diesem Band möglich sind, kurz vorzustellen, werde ich im Weiteren die Entwicklung der Beziehung zwischen Gretha und Ernst Jünger in drei Etappen auf der Grundlage der Briefauswahl nachzeichnen und charakterisieren.

Schneckchen und Prinzeßchen

Ernst, das „Schneckchen“, 27 Jahre alt und nach dem Ersten Weltkrieg Leutnant im Infanterie-Regiment 16 der Reichswehr, lernt 1922 die zu diesem Zeitpunkt 16-jährige Gretha, das „Prinzeßchen“, auf offener Straße in Begleitung ihres Onkels kennen. Im Militärgewand beeindruckt er sie sehr und kann sie trotz Warnung des Onkels nach einer Theateraufführung, bei der sie die Rolle der Frau Marthe in Kleists „Der Zerbrochene Krug“ spielt, von sich endgültig überzeugen, worauf ein Briefverkehr beginnt, der sich über 38 Jahre und Höhen wie Tiefen erstrecken wird. Am Anfang sind die beiden aber nur eines, wahnsinnig nacheinander, schreiben sich unablässig und verzieren die Briefe mit Zeichnungen, Kosenamen und selbstgeschriebenen Gedichten. Dazu ist die junge Romanze extrem aufregend, sie muss nämlich ein Geheimnis bleiben, da Grethas Familie den Umgang ihrer Tochter mit Ernst nicht gutheißen will und kann – wegen des Altersunterschieds und seines Rufs; jedoch ist der Altersunterschied für Ernst Jünger perfekt: „Du weißt doch, das Alter des Mannes mit 10 addieren und es dann durch zwei teilen. Also 29 + 10 = 39, geteilt durch 2? 19 einhalb. Also stimmt es doch noch nicht so ganz“ (S. 37), soweit zur „erotischen Mathematik“ Jüngers.

In den Briefen dieser Jahre zeigen sich Formen des autoritären Charakters Ernst Jüngers. Immer wieder droht er in spielerischer oder ernster Manier dem Prinzeßchen vor anderen Männern, Kinobesuchen, dem Vergessen von knappen Gewändern für sein Plaisir, die ihn „rasend“ nach ihr machen, oder vor ihrer eigenen Familie, ja selbst davor, dass er der Versuchung anderer Frauen verfallen könnte. Diese Züge des Autoritären werden begleitet von einer instrumentellen Vernunft, sobald es um Freundschaften geht. Über die Jahre zeigt sich Ernst Jünger im intimen Austausch mit seiner Frau als ein Freund, der aus seinen Freundschaften, sei es mit Arnolt Bronnen, Edmund Schultz oder Carl Schmitt, Profit ziehen will und ansonsten „andere Beziehungen anknüpfen will, von denen auch etwas zu erwarten sei“ (S. 61). Und doch steht mehr als das erste Jahrzehnt der Beziehung im Kern um die wachsende Familie mit zwei Kindern und dem Schreiberfolg Jüngers.

So schreibt liebkosend der 31-jährige Ernst Jünger an die 20-jährige Gretha: „Denkst Du auch immer vorschriftsmäßig an mich und bist Du immer mein artiges Mädchen? Wenn ich Dich erst einmal hier habe, ist es mit Deiner Freiheit vorbei, und Du stehst unter Schneckchens gestrengem Regiment“ (S. 42) – nach dem großen jugendlichen Fun oder der Erzählung freier Liebe in den 1920er-Jahren hört sich das nicht an, Schneckchens Liebe ist ein Stahlbad.

Die Schreibfabrik Gretha und Ernst Jünger

Nach den ersten Jahren, der Vermählung, der Geburt des ersten und zweiten Kindes sowie Umzügen in unterschiedliche Wohnungen oder Häuser zeigt sich vermehrt in den dreißiger Jahren eine Veränderung in der Beziehung beider, die wenn nicht unbedingt von Gleichberechtigung und Augenhöhe zeugt, doch von einer erstarkten Position Grethas berichten kann. Gemeinschaftlich bilden sie eine Schreibfabrik, in der sie sich gegenseitig an Überweisungen, Tantiemen und Termine erinnern, Manuskripte übermitteln und das weitere Vorgehen besprechen. Während Gretha – nicht nur in den Briefen – dabei einiges literarisches Talent zeigt, geht es jedoch nur um die Schriften Ernst Jüngers. In dieser Zeit emsiger Arbeit ist dieser nicht häufig zu Hause und grüßt die Kinder, das Heim und die dort alleinwirkende Gattin nur aus der Ferne, immer wieder auf langen Reisen und Expeditionen, wie beispielsweise 1935 für Monate nach Norwegen, wo Ernst Jünger aus dem „Rasse Paradies“ von dort herrschender „starker Degeneration“ (S. 74) zu berichten weiß.

Auch nach Kriegsbeginn stellt sich diese Form der Schreibfabrik nicht ein und Gretha kommt 1942 auf die Formel, die dem Band den Titel stiftet, sie wären auch in der Ferne „Einer der Spiegel des Anderen“ (S. 320), wenn auch sie in ihrem einsamen Schlafzimmer feststellen muss, dass der liebevolle Ton Ernsts sich verabschiedet hat.

Betrug und Entfremdung

Im selben Jahr verhärtet sich die Distanz zwischen den beiden. Gretha möchte von Ernst, er ist gerade stationiert im besetzen Paris, nicht geliebt werden wie eine „Schwester“, sondern möchte auch mit „36 Jahren noch als Frau“ (S. 323) geliebt und begehrt werden. Ein Jahr darauf kommt die Affäre, die Ernst Jünger in Paris führt, heraus und bricht die gelebte Vertrautheit. Auch wenn seine Entschuldigungsbriefe die Wogen wieder glätten können und auch Gretha sich sicher ist, dass nicht sie selbst oder Ernst, sondern Madame R. „in jedem Fall schuldig“ (S. 362) ist, wird sich nie wieder der verliebte Ton der ersten 20 Jahre einstellen.

Nach dem Tod des älteren Sohns als Soldat im Zweiten Weltkrieg und der vorübergehenden Trennung des Paares im Jahr 1949 stellt sich für die letzten zehn Jahre ihrer Beziehung ein unaufgeregter Ton ein, der von Urlaub und Bekannten berichtet und die eingespielte Schreibfabrik fortsetzt. Ende November reißt der Briefverkehr im Juni 1960 ab, ein paar Monate vor dem Ableben Gretha Jüngers.

Der Band „Einer der Spiegel des Anderen“ bietet viele weitere Aspekte, um Fragen nach der beispielsweise rassistischen oder antisemitischen Gesinnung einer der in der Weimarer Republik und der BRD meistgelesenen Schriftsteller deuten zu können, doch bietet er noch viel mehr Erkenntnis: Über Ernst Jüngers autoritären Charakter, seine instrumentellen Freundschaften und eine toxische Beziehung im frühen 20. Jahrhundert, bei der das kreative, literarische und organisatorische Wirken der Ehefrau zu Unrecht hinter dem Namen ihres Mannes verschwinden würde – wäre da nicht beispielsweise der Band von Keith und Schöttkers, der einen anderen, tieferen Einblick in diese „Spiegelung“ erlaubt.